Wunderbare Begegnung

7. August 2015

Am 5. Mai dieses Jahres kam es im Archiv der Gedenkstätte Dachau zu einer ,,wunderbaren Begegnung“, der eine weit zurückliegende Vorgeschichte vorausgegangen war. Am 5. Mai in der Gedenkstätte Dachau ein bewegendes Beispiel von deutsch-amerikanischer Freundschaft von Unten ereignet: Ein ehemaliger sowjetischer Häftling, dem von einem deutschen Widerstandskämpfer im Außerlager Allach des KZ Dachau Gutes getan wurde, traf nach Jahrzehnten dessen langjährigen Freund. Der Häftling Nikolai Choprenko war infolge des Nazi-Kriegs gegen die Sowjetunion mit 19 Jahren aus der Ukraine als Zwangsarbeiter verschleppt und über Zwischenstationen im Außenlager Allach für die BMW-Rüstungsproduktion eingesetzt worden. Der Widerstandskämpfer Karl Wagner wiederum war 1933 wegen illegaler kommunistischer Tätigkeit verhaftet und über Gefängnisse und das Moorlager im Emsland als „Zweitmaliger“ in das KZ Dachau gebracht worden. Dort hatte er es in Zusammenarbeit mit der illegalen Häftlings-Lagerleitung verstanden, in verschiedenen Funktionen als von der SS eingesetzter Kapo statt für deren Friedhofs-Ordnung für den Schutz der Häftlinge tätig zu werden. Das war eine tödliche Gratwanderung, wofür Karl die Gabe besaß, Widersprüche innerhalb der SS auszunutzen. Im April 1943 wurde er vom Dachauer Lagerkommandanten Weiß als Lagerältester nach Allach abkommandiert, um dort für Ordnung, d.h. für eine reibungslose BMW-Rüstung zu sorgen. Der dortige Lagerführer Jarolin hatte die neue Himmler-Anweisung nicht verstanden: Statt Vernichtung der Häftlinge durch willkürliche Strafmeldungen war Vernichtung durch Arbeit für die Rüstungsproduktion angesagt, um den beginnenden Wehrmacht-Rückwärtsgang in der Sowjetunion wettzumachen.

Im Juli 1943 trafen Nikolai und Karl in Allach aufeinander. Jarolin war wütend über die Veränderungen zu seinen Ungunsten aufgrund von Karls geschicktem Widerstand (weniger Meldungen, zusätzliche Essensportionen von BMW) und wollte ein Exempel statuieren. Er ließ das komplette Außenlager antreten, um Karl den Befehl zum Schlagen eines Häftlings zu erteilen. Ein diabolischer Plan. Wenn Karl diesen Befehl verweigerte, konnte die Lager-SS eine solche Ungeheuerlichkeit unmöglich durchgehen lassen. Sollte Karl schlagen, hatte ihn Jarolin in die Knie gezwungen. Nikolai war das ausgesuchte Opfer der Prügelstrafe. Karl verweigerte den Befehl tatsächlich. Der Wortwechsel zwischen Karl und Jarolin erinnert an einen Dialog zwischen Faust und Mephisto und ist im Buch „Der Kapo der Kretiner“ (2009 im Pahl-Rugenstein-Verlag Bonn erschienen) über Karls Widerstand von 1933 bis 1945 niedergeschrieben. Das Buch war von Karls Lebensgefährtin Hilde erstmals 1991 veröffentlicht worden. Die Verweigerung endete damit, dass Karl seine Lagerältestenbinde vom Arm riss und sie auf den Prügelbock warf. Der SS-Scherge war von der demonstrativen Rückgabe einer SS-Funktion psychologisch derart verblüfft und irritiert, dass er Karl nicht erschoss. Karl wurde in den Arrestbau abgeführt, kam nach Dachau zurück und erlitt dort Prügelstrafe und Bunkerhaft. Nikolai wurde danach von einem anderen Kapo geschlagen und überlebte trotz furchtbarer Schmerzen.

Erstmals war ein SS-Befehl, Häftlinge durch Häftlingsfunktionäre (Kapos) schlagen zu lassen, verweigert worden. Das hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, machte Mut und andere Häftlingskameraden folgten diesem Beispiel. Soweit das historische Ereignis. Nikolai und Karl überlebten die Hölle des Faschismus, der Mörder Jarolin wurde von den Alliierten hingerichtet. Karl wurde im KZ Buchenwald befreit. Nikolais Gesundheit war derartig zerrüttet, dass er drei Jahre im Krankenhaus in München zubringen musste. Später wanderte er in die USA aus und nannte sich Nick Hope. Der Württemberger Karl Wagner brachte seine Widerstandserfahrungen im Nachkriegsdeutschland ein. Der Autor lernte Karl 1971 in Karlsruhe kennen und lebte bis zu dessen Tod 1983 wie ein Sohn in dessen Familie. Hilde verstarb 2002.

Und nun zum wunderbaren Treffen am 5. Mai im Archiv der Gedenkstätte Dachau: Nicks Sohn George kam zusammen mit seinem Vater herein, sah das Buch „Der Kapo der Kretiner“ mit Karls Foto und wusste sofort, dass das derjenige war, der sich geweigert hatte, seinen Vater zu schlagen. Beide hatten seit Jahren eine Verbindung zu Karls Angehörigen gesucht.

Und nun geschah das Unglaubliche, 72 Jahre nach dem historischen Ereignis kamen der ehemalige Häftlinge und der langjährige Familienfreund der Wagners zusammen.

Dietrich Schulze

aus: Informationen der Lagergemeinschaft Dachau e.V. Nr. 44/2015

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