Tag der Befreiung 2011

In Gedenken an den Sieg gegen den Faschismus und an die Befreiung der Welt von Krieg und Barbarei am 8./9. Mai 1945 fand auch in diesem Jahr wieder eine gemeinsame Veranstaltung der Gewerkschaft ver.di Mittelbaden-Nordschwarzwald, des DGB Nordbaden und der VVN-BdA Karlsruhe statt. Seit Jahren schon hat man es sich zur Pflicht gemacht, gemeinsam über die Geschichte und ihre Lehren aufzuklären. Diesjähriger Referent war Prof. Kurt Pätzold. Der Historiker und Faschismusforscher gehört zu den publizistisch aktivsten und kritischsten Vertretern seiner Zunft. Die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ist sein Lebenswerk. 30 interessierte Teilnehmer kamen im ver.di-Haus Karlsruhe zusammen um mitzudiskutieren.

In seiner Begrüßungsrede erinnerte ver.di Gewerkschaftssekretär Simon Habermaaß an den 2. Mai 1933. An diesem denkwürdigen Tag stürmten Rollkommandos der SA und SS die Gewerkschaftshäuser und zerschlugen die freien Gewerkschaften. Gewerkschaftliches Eigentum wurde enteignet, Verbandsvorsitzende und missliebige Gewerkschaftsfunktionäre in „Schutzhaft“ genommen. Nach der Befreiung vom Faschismus hatte daher die Bildung einer antifaschistischen Einheitsgewerkschaft höchste Priorität und sei bis heute noch Aufgabe aktueller Gewerkschaftspolitik. Dazu gehöre konsequentes Handeln gegen neofaschistische Aktivitäten und kontinuierliche Bildungsarbeit.

Auch Silvia Schulze, Sprecherin des Kreisvorstandes der VVN-BdA Karlsruhe, machte in ihrer Begrüßungsrede auf die historische Bedeutung des Tages der Befreiung aufmerksam. Von 1933 bis 1945 seien 55 Millionen Menschen in Konzentrationslagern fabrikmäßig vernichtet worden oder wurden Opfer des Krieges. Darunter 22 Millionen Sowjetbürger und 6 Millionen Juden. Der 8. Mai 1945 war für Millionen von ZwangsarbeiterInnen, KZ-Häftlingen und WiderstandskämpferInnen aber auch für die Mehrheit der Bevölkerung fast aller europäischen Staaten ein Symbol der Befreiung vom NS-Terror. Doch was in Deutschland und anderswo in Europa heute, 66 Jahre später, geschehe, hätte mit den Vorstellungen und Forderungen dieser Menschen nichts mehr zu tun. So würden die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert und die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt. Faschisten marschierten wieder durch die Straßen, seien in die Parlamente eingezogen und würden vom Staat finanziert. Und all dies werde auch noch durch Richtersprüche unter Berufung auf die Meinungsfreiheit unterstützt, obwohl klar sei, dass millionenfacher Mord niemals eine legitime Meinung sein kann, sondern ein Verbrechen ist.

 

„Die Geschichte wird man nicht los“

Nach dem Motto, man könne über alles reden, nur nicht über fünfundvierzig Minuten, kündigte Kurt Pätzold an, seinen Vortrag kurz zu gestalten. Die Diskussion und das direkte Gespräch mit den Anwesenden sind ihm wichtiger. Ob dabei die zugespitzten, oftmals provozierend wirkenden Aussagen Pätzolds nur der Befeuerung der Diskussion dienen sollten, oder wahrhaftig seine persönliche Einschätzung darstellen, bleibt sein Geheimnis. Thema seiner Rede war die Frage: Befreiung – wovon, wodurch, wofür?

Wovon? Um zu verstehen, wovon Deutschland befreit wurde, sei es hilfreich, sich die Frage zu stellen: Was wäre gewesen, wenn der Faschismus gesiegt hätte? An einem Beispiel macht Pätzold die Katastrophe deutlich: So sei die systematische Ermordung von Zig-Millionen Osteuropäern in Form von Aushungerung konkretes Ziel der faschistischen Ost-Politik gewesen. Hätte der Faschismus gesiegt, wären im Kampf um knappe Ressourcen ganze Völker ausgerottet worden. Die Vernichtung von Menschen im innern Deutschlands und die Führung eines Vernichtungskrieges seien also nur die ersten Schritte eines weitergehenden Planes unvorstellbarer Grausamkeit gewesen. Doch wie kam ein solches menschenverachtendes Regime an die Macht? Wurde Hitler von den Volksmassen erwählt, oder puschten ihn ökonomische und militärische Eliten an die Macht? Ein Zusammenspiel aus beidem! Die NSDAP sei mit 38% der Wählerstimmen zwar stärkste Partei gewesen, jedoch bedeutet dies auch: 62% der Deutschen haben nicht für Hitler gestimmt! Die Machtergreifung (Machtübergabe?) Hitlers ist für Pätzold nur zu erklären als eine Intrige, gesponnen von gesellschaftlichen Eliten. Die Möglichkeit für ein Gelingen dieser Intrige sei jedoch in der Popularität und den Wahlerfolgen Hitlers zu suchen. Kurz: Ohne Massenanhang sei Hitler für Militär und Kapital uninteressant gewesen, doch allein die Volksmassen hätten ihn nicht an die Macht gebracht.

Wodurch? Wodurch wurde Deutschland vom Faschismus befreit? Pätzold zufolge fand die Befreiung nicht nur nicht aus eigener Kraft statt, sondern der innerdeutsche Widerstand sei sogar völlig wirkungslos gewesen! Er hätte den Faschismus nicht um einen einzigen Tag verkürzt. Doch warum fand die Befreiung nicht aus eigener Kraft statt? Die Mehrheit der Deutschen hätte den Krieg nicht gewollt. Seien zu Beginn des 1. Weltkrieges die Volksmassen noch jubelnd auf die Straßen gegangen um den Kriegsbeginn zu feiern, so sei zu Beginn des 2. Weltkrieges keine Masseneuphorie zu beobachten gewesen. Obgleich die Deutschen den Krieg nicht wollten, haben sie ihn dennoch unterstützt, weshalb? Pätzolds Antwort: Weil sie ihn nicht verlieren wollten! War der Krieg einmal begonnen, wollte man ihn auch gewinnen. Zumal vielen noch der verlorene erste Weltkrieg in Erinnerung war. Deutschland wurde von den Alliierten befreit, wobei das Hauptverdienst der Sowjetunion zukäme und nicht den USA.

Wofür? Die Alliierten seien nicht nach Deutschland gekommen um es zu befreien. Ihr Interesse sei vielmehr gewesen, Deutschland für alle Zeiten kriegsunfähig zu machen. So sei ursprünglich geplant gewesen, das vollständig entmilitarisierte Deutschland als geografischen und politischen Pufferstaat zwischen den Blöcken zu etablieren. Jedoch hätte der beginnende Kalte Krieg diesen Plan zunichte gemacht.

 

Vom Nutzen des Widerstandes…

Die anschließende Diskussion drehte sich vor allem um die Fragen, welche Rolle dem innerdeutschen Widerstand zukäme und welches das tatsächliche Interesse der Alliierten gewesen sei. Vor allem Pätzolds Aussage, der innerdeutsche Widerstand sei wirkungslos gewesen, sorgte unter den Diskussionsteilnehmern für besondere Provokation. Es handle sich um eine zu deprimierende Darstellung, die heutige Antifaschisten demotivieren könne. Doch Pätzold erwidert: Man dürfe die Geschichte nicht beschönigen. Er stellte jedoch auch die Frage: Was wäre Deutschland nach dem Krieg gewesen, ohne innerdeutschen Widerstand? Diejenigen, die von 1933 bis 1945 ein neues, besseres Deutschland anstrebten, seien nach 1945 schließlich nicht einfach verschwunden. Auch wenn der Widerstand dem Faschismus nichts entgegensetzen konnte, hieße dies noch lange nicht, dass er sinnlos war.

Auch Pätzolds These, die Alliierten hätten kein Interesse an der Befreiung Deutschlands gehabt, stieß auf Kritik. Ein Diskussionsteilnehmer stellte fest, dass für die Sowjetunion die Befreiung sehr wohl das ausschlaggebende Motiv gewesen sei. Es sei zudem falsch, anzunehmen, die Entmilitarisierung sei das Ziel der Alliierten gewesen. Die Westmächte hätten von Anfang an geplant, Deutschland kriegstauglich zu machen um im Anschluss an den 2. Weltkrieg den Krieg gegen den Kommunismus führen zu können.

Ein weiterer Diskussionsteilnehmer bezog sich auf Pätzolds Bemerkung zum Plan der Aushungerung osteuropäischer Völker im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion. Er verwies dabei auf das aktuelle Buch von Wigbert Benz Der Hungerplan im »Unternehmen Barbarossa« 1941 (Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2011).

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