Tag der Befreiung 2010
News-Beitrag auf stattweb.de vom 12.Mai 2010
Noch nie in der den letzten Jahrzehnten gab es so viele Teilnehmer an der Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Faschismus und Krieg in Karlsruhe. Das Gedenken wird traditionell von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) organisiert, seit vielen Jahren gemeinsam mit DGB und ver.di. Mit 100 TeilnehmerInnen war der große Saal des ver.di-Hauses rappelvoll.
Das Programm der Veranstaltung entsprach dem internationalistischen Charakter des 8. Mai 1945. Dazu trug maßgeblich der 84-jährige französische Widerstandskämpfer Emile Torner (Präsident der A.D.I.R.P.) aus Paris bei, einer der ganz wenigen verbliebenen Zeitzeugen. Die Veranstaltung war gleichzeitig eine Hommage an den auch in Karlsruhe bekannten deutschen Widerstandskämpfer in der Résistance Peter Gingold (2006 verstorben). Aus dessen Lebenserinnerung lasen seine Tochter Silvia Gingold und sein jüngerer politischen Weggefährte, der Historiker Dr. Ulrich Schneider. Aus Italien sollte Bruno Andreoli aus Modena sprechen. Er hatte bei einem Jugendaustausch-Programm des Partisanenverbands ANPI in den 50er Jahren Peter Gingold getroffen, wurde von ihm politisiert und wollte über seine antifaschistische Arbeit berichten. Leider konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen.
Dafür, dass es eine Feier wurde, sorgte vor allem der weit über die Region hinaus bekannte Chor des Autonomen Zentrums Heidelberg mit Michael Csaszkóczy, wobei feiern wörtlich zu verstehen war – das Motto dieser Siegesfeier lautete „Wer nicht feiert, hat verloren.“ Den politischen Abschluss lieferte Dr. Ulrich Schneider in seiner Funktion als Generalsekretär der Internationalen Föderation der Wider-standskämpfer (FIR). Er machte deutlich, dass das „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ vor 65 Jahren in einem schreienden Gegensatz zu den heutigen Realitäten steht.
Emile Torner – Kämpfer der Résistance
Emile Torners gut einstündigem konzentriert vorgetragenem Bericht (Übersetzung Angela Tschorsnig) folgten die Zuhörer mit großer innerer Anspannung. Obwohl die Ereignisse ein Dreiviertel-Jahrhundert zurückliegen, konnten sie unmittelbar nacherlebt werden. Wie er als 10-Jähriger, aufgewachsen in einer jüdisch-republikanischen Familie, mit dem Vater an Veranstaltungen zur Verteidigung der Spanischen Republik teilnahm und die Bedeutung der Solidarität kennen lernte. Wie nach der Besetzung von Paris der Gedanke bei ihm reifte, die Stadt zu verlassen und sich dem Widerstand anzuschließen. Wie er es als Unbekannter in Mittelfrankreich anstellte, das Vertrauen der Résistance-Kämpfer zu gewinnen und in eine bewaffnete Widerstandsgruppe (le maquis creusois) aufgenommen zu werden. Wie er als 18-Jähriger verhaftet und über KZ-Außenlager in Köln und Stolberg nach Buchenwald deportiert wurde. Dort erlebte er zum ersten Mal, dass es eine wirksame illegale Wider-standsorganisation in Buchenwald gab. Wie er später im Außenlager Langenstein durch Schwerstarbeit geschunden wurde. Das NS-Programm bedeutete „Vernichtung durch Arbeit“. Die Lebenserwartung in Langenstein (unterirdisches Stollensystem als Motorenfabrik für Junkers-Jäger) betrug ein halbes Jahr. Wie die KZ-Lager bei heranrückender Front systematisch evakuiert und die Häftlinge auf Todesmärsche geschickt wurden. Wie er nach 5 Monaten Langenstein in einem Stadium zwischen Leben und Tod auf 28 kg abgemagert von der US-Armee befreit wurde. Wie noch kurz vor der Befreiung sein bester Freund und Mitkämpfer starb. Wie er in den Nachkriegswirren völlig auf sich allein gestellt, auf allen Vieren davon kroch, um sich etwas Nahrung zu beschaffen. Nach Paris zurückgekommen, hatten ihn selbst die Eltern fast nicht wieder erkannt.
Emile erklärt, dass er sich verpflichtet fühlt, sein Wissen weiter zu geben, damit sich so etwas niemals wiederholt. Er äußert große Freude darüber, dass soviel junge AntifaschistInnen gekommen waren und geduldig zuhörten, aus Platzmangel teilweise am Boden sitzend. Er werde seinem Verband der Inter-nierten, Deportierten, Widerstandskämpfer und Patrioten A.D.I.R.P. über dieses hier versammelte andere Deutschland, das zu einem Europa der Freiheit und des Friedens (Schwur der Häftlinge von Buchenwald) ohne Faschisten beitragen will, sehr gerne berichten.
Trinkspruch auf den Sieg
Nicht leicht nach diesem bewegenden Zeitzeugenbericht die Kurve zur feierlichen Fortsetzung des Veranstaltungsprogramms zu bekommen, dem Trinkspruch auf den Tag des Sieges der Völker vor 65 Jahren über ihren gefährlichsten Feind. Die Hauptlast hatten die Rote Armee und die Sowjetunion mit der unvorstellbaren Zahl von 27 Millionen Toten getragen. Es mag deswegen nicht erstaunen, dass das „Na Zdarówje! на здоровье!“ auf besonders kräftige Erwiderung stieß neben den Entsprechungen in der Sprache der Alliierten. Ebenso kräftige Erwiderung gab es für „Ya mas ! για μας !“ in der Sprache des Volkes, das mutig gegen die deutschen Faschisten kämpfte und heute beispielhaft gegen die ver logene neudeutsch-europäische Krisenabwälzung. Zu Recht wurde festgestellt, dass sich eine Welt des „Friedens und der Freiheit“ gegenwärtig eher entfernt statt sich zu nähern. Nazis marschieren auf den Straßen und deutsche Soldaten sind an Angriffskriegen und Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevöl-kerung beteiligt. Und wie zum Hohn auf die Résistance sei vor wenigen Tagen ein Jägerbataillon der Bundeswehr auf französischem Boden stationiert worden. Viel zu tun, um dagegen anzukämpfen und es sei an der Zeit, den Tag der Befreiung zum gesetzlichen Feiertag der Bundesrepublik und in ganz Europa zu machen.
Peter Gingold – Kämpfer der Résistance
Bewundernswert, wie es Silvia und Ulrich nach dem aufwühlenden ersten Veranstaltungsteil mit einer klugen Auswahl von Texten aus dem Buch über und von Peter Gingold gelang, die Zuhörer erneut zu fesseln. Titel „Paris – Boulevard St. Martin No. 11 – Ein jüdischer Antifaschist und Kommunist in der Résistance und der Bundesrepublik“. Die wichtigste Botschaft des Mutmachers: Wenn es die politische Opposition am Ende der Weimarer Republik, wenn es die Gewerkschafter, Sozialdemokraten, Kommu-nisten und Christen geschafft hätten, den Nazis gemeinsam entgegen zu treten statt sich zu zerstreiten oder zu resignieren, die Katastrophe hätte gestoppt werden können. Im Februar 1943 als vermeint-licher Chef der Widerstandsbewegung von der Gestapo in Dijon verhaftet, gelang ihm bereits im April die Flucht und er setzte seine Widerstandstätigkeit fort. Welche Rolle die Tür zum Haus No. 11 im Boulevard St. Martin bei der Flucht spielte, meinten die beiden Vorlesenden pfiffig, möge der Zuhörer selbst nachlesen (PapyRossa-Verlag 2008, ISBN 978-3-89438-407-4). Peter wurde von der Résistance später nach Italien geschickt. Den 8. Mai erlebte er in Turin und beschreibt das im Buch so: „Ich ging ins Zentrum und wurde von den Hunderttausenden, die sich gegenseitig umarmten, fast erdrückt. Und unter Madolinenklängen von »Bella ciao«, »Avanti popolo bandiera rossa« sangen und tanzten sie bis in die tiefe Nacht. So kann nur ein Volk feiern, dass selbst heldenhaft für seine Befreiung gekämpft hat.“
Chanson „Die Zeit der Kirschen“
Ein Gefühl dieser befreienden Stimmung durchzog das tolle Kulturprogramm des Heidelberger Antifa-Chors, der die Veranstaltung mit dem französischen Partisanenlied „chant des partisan“ eröffnet hatte. Sehr berührt war Emile von der Darbietung des Lieds „Die Zeit der Kirschen“ – „le temps de cerises“, ein bittersüßes Chanson aus der Zeit der Pariser Kommune, das in der Résistance als Lied der Freiheit, Solidarität und des Widerstands gegen Unterdrückung populär war. Ein Lied der Jugend und der Liebe. Emiles Gedanken gingen dabei wohl zurück in die Jugendzeit zu seinen KameradInnen. Er hatte sich für die richtige Seite entschieden und würde es wieder tun.
Nach diesen eindrucksvollen Zeitzeugen-Berichten ordnete Ulrich Schneider im Namen der FIR den 8. Mai 1945 in die politische Gegenwart ein. Er verwies darauf, dass einerseits dieser Tag in zahl-reichen europäischen Ländern als offizieller Feiertag begangen wird. Gleichzeitig habe man aber allen Grund, wachsam zu sein gegen Tendenzen, die dem „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ entgegenstehen.
SS-Verbrecher als „Freiheitskämpfer“
Er erinnerte daran, dass insbesondere in baltischen Ländern SS-Verbrecher als „Freiheitskämpfer“ geehrt würden. Dass in Ungarn eine rechtspopulistische Partei, die von der offen faschistischen JOBBIK-Bewegung unterstützt wird, die absolute Mehrheit im Parlament erringen konnte. Dass nicht nur in Griechenland Neofaschisten mit sozialer Demagogie Volksbewegungen gegen die Abwälzung der wirtschaftlichen Krise in rassistisches Fahrwasser zu lenken versuchten. Daher sei das Bündnis mit den Gewerkschaften in antifaschistischer Perspektive unabdingbar und er dankte den örtlichen Gewerk-schaftskollegInnen, dass sie diese Befreiungsfeier aktiv mitgetragen haben.
Medaille zum 65. Jahrestag
Neben diesen Inhalten gab es auch noch Symbolisches. Emile Torner überreichte den Veranstaltern eine Medaille der französischen Widerstandsverbände zum 65. Jahrestag. Diese revanchierten sich mit Peter Gingolds Buch, überreicht von Silvia Gingold, und mit einem guten badischen Roten, überreicht von Jürgen Ziegler, ver.di-Bezirksgeschäftsführer und Hausherr. Der VVN-BdA blieb es vorbehalten, Emile das Buch von Hilde Wagner „Der Kapo der Kretiner“ (Pahl-Rugenstein-Verlag 2009, ISBN 978-3-89144-407-8) über den Dachau-Häftling und kommunistischen Widerstandskämpfer Karl Wagner zu überreichen. Karl war Mitglied der illegalen Widerstandsorganisation in Dachau, die bis heute von der offiziellen Geschichtsschreibung geleugnet bzw. diffamiert wird. Karl hat für die Entwicklung des „Bundes der Antifaschisten“ der VVN-BdA Karlsruhe eine ähnliche Zeitzeugen-Rolle wie Emile gespielt.
Widerstand gegen Nazi-Zentrum
Silvia Schulze, Sprecherin der Kreisvereinigung VVN-BdA, hatte zusammen mit Jürgen Ziegler die Veranstaltung eröffnet, nicht ohne den Hinweis auf erneute Versuche ein Nazi-Propagandazentrum in der Nähe von Karlsruhe (BNN 7.5.2010) zu schaffen, nachdem das in Karlsruhe-Durlach geplante verhindert wurde. Und nicht ohne den Hinweis auf den notwendigen Widerstand gegen die Angriffe auf Sozialstaat und Demokratie, wofür Griechenland Beispiel und Vorbild ist.
Die Veranstaltung wurde in diesem Sinne mit der Bitte um Unterstützung der Friedensfahrradtour und der Demo gegen die Abschiebung von Roma nach Kosovo, beide am 8. Mai in Karlsruhe, sowie einer Veranstaltung über die Hintergründe des Afghanistankrieges am 10. Mai im Jubez mit Tobias Pflüger und schließlich der großen Gewerkschaftsdemo am 12. Juni in Stuttgart „Nicht auf unserem Rücken. Gerecht geht anders“ beendet.
Emile Torners Vortrag und die Chor-Darbietung sowie ein weiteres Interview von Rene Lober mit Emile sind zur Veröffentlichung im freien Radio „querfunk“ vorgesehen.
Ergebnis https://www.freie-radios.net/33923 Audio am 8.Mai
Zur Abrundung noch der Bericht von Ekart Kinkel in den Badischen Neuesten Nachrichten über sein Interview mit Emile Torner (erschienen am 10. Mai 2010)
“Selbst im KZ tobte der Widerstand“
Zeitzeuge Emile Torner sprach bei „Deutsch-französischer Befreiungsfeier“ über seine Zeit im Arbeits-ager in Buchenwald. Seine Würde und seinen Stolz habe ihm niemand nehmen können
Dieses Datum wird Emile Toner niemals vergessen: Am 19. Juli 1944 wurde er als Mitglied einer Gruppe französischer Widerstandskämpfer in Saint Dizier Leyrenne verhaftet. Der erst 18 Jahre alte Torner wurde gemeinsam mit seinen Kameraden in Konzentrationslager gebracht und durchlebte ein knapp zehnmonatiges Martyrium, welches erst mit dem Kriegsende am 8. Mai 1945 ein Ende fand.
Heute zählt Torner 84 Jahre und erzählt als Zeitzeuge in Schulen und bei öffentlichen Veranstaltungen von seinen Erlebnissen in der Gefangenschaft der Nationalsozialisten. Am Freitagabend beeindruckte er mit seinen autobiographischen Schilderungen bei einer „Deutsch-Französischen Befreiungsfeier“ am Vorabend des 65. Jahrestages der Kapitulation, die von Verdi, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Anti-faschisten initiiert wurde.
Emile Torner bewegt sich langsam und mit einer Gehhilfe, das Alter hat seine Spuren hinterlassen. Doch wenn er sitzt, seinem Gegenüber in die Augen schaut und mit klarer Stimme zu sprechen beginnt, dann blitzt mit einem Male die Entschlossenheit des einstigen Widerstandskämpfers auf. Aufgewachsen als Sohn jüdischer Eltern in Frankreich, kam er schon früh mit Faschismus und Antisemitismus in Berührung. Doch während sein Vater nach dem Einmarsch der Nazis aus Frankreich flüchtete, zog es den jungen Torner zur Resistance. „Ich wollte mein Heimatland befreien“, begründet er heute diesen Schritt. Torner war schon immer ein politischer Mensch – und ist es bis heute als Vorsitzender einer Deportiertenvereinigung geblieben. „Die Geschichte darf nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Torner und sucht deswegen die Öffentlichkeit. Vor allem Schüler würden dies mit großem Interesse an seiner Lebensgeschichte danken.
Ob er die Deutschen heute hasse, werde er meistens gefragt. „Gegen das deutsche Volk hege ich keinen Hass. Nur gegen die Nazis“, so Torner. Er scheint ein Stück weit seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht zu haben. Obwohl er die Arbeitslager bei Köln, in Buchenwald und zuletzt in Langenstein nur mit Glück überlebt hat. „In Langenstein lag die Lebenserwartung bei sechs Monaten.“ Wie die Sklaven mussten die Deportierten dort für deutsche Firmen wie Siemens, Krupp und Volkswagen schuften. „Wir waren billiger zu halten wie Hunde“, sagt Torner. Und selbst wenn es zynisch klingen würde: In Buchenwald gab es aus Angst der Nazis vor Epidemien zumindest ein Mindestmaß an Hygiene, „in Langenstein lebten wir buchstäblich im Dreck“. Nach fünf Monaten Schwerstarbeit war er dort auf 28 Kilogramm abgemagert. Als ihn seine Eltern nach Kriegsende in Empfang nahmen, hätten die ihn nicht erkannt. „Ich habe mich auch selbst kaum mehr erkannt“, gesteht Torner.
Wie hat er diese Gräuel überhaupt überstehen können? „Auch in den Lagern gab es organisierten Widerstand. Und Leute wie wir und solche mit religiösen Idealen hatten etwas, woran sie sich orien-tieren konnten“, meint Torner. So gab es in Buchenwald jeden Sonntag einen politischen Vortrag innerhalb der französischen Widerstandsgruppe. In anderen Lagern gründeten sich sogar Theater-gruppen. Denn seine Würde und seinen Stolz habe ihm niemand nehmen können, sagt er: „Sie haben uns zwar behandelt wie Vieh – aber wir haben uns nicht so verhalten.“
Nachtrag
Emile ist am 10. März 2014 im Alter von 89 Jahren verstorben.
http://michelbenoit.canalblog.com/archives/2014/03/27/29526533.html