Tag der Befreiung 2015
Anlässlich des Jahrestages der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus fand am Sonntag, den 10. Mai im ver.di-Haus Karlsruhe die traditionelle Befreiungsfeier statt. Rund 50 interessierte Bürgerinnen und Bürger folgten der Einladung der VVN-BdA, des DGB und seiner Einzelgewerkschaften ver.di, NGG und GEW. Zum siebzigsten Mal jährte sich der Tag, an dem der unvorstellbare Massenmord sein militärisch erzwungenes Ende fand. Am 8. Mai 1945 war nach 12 Jahren Diktatur mit 6 Jahren Krieg und mindestens 55 Millionen Toten der Hitlerfaschismus militärisch geschlagen und der Weltkrieg beendet.
Um die lebendige Erinnerung wachzuhalten konnte in diesem Jahr Silvia Gingold als Zeugin eines Zeitzeugen gewonnen werden. Ihr Vater Peter Gingold kämpfte – zusammen mit seiner Frau Ettie – an der Seite der Résistance in Frankreich und erlebte die Befreiung 1945 mit den Partisanen in Norditalien. In ihrer Rede ging Silvia Gingold auf die Erinnerungen ihres Vaters an den Tag der Befreiung ein: „Den 8. Mai 1945 erlebte ich in Turin. Ich war in einer Kaserne untergebracht; nun weckte mich ein unaufhörliches Glockengeläut. Es verkündete das Kriegsende. Ich ging ins Zentrum und wurde von den Hunderttausenden, die sich gegenseitig umarmten, fast erdrückt. Und unter Mandolinenklängen von ‚Bella ciao’, ‚Avanti popolo… bandiera rossa’ sangen und tanzten sie bis in die tiefe Nacht. So kann nur ein Volk feiern, das selbst heldenhaft für seine Befreiung gekämpft hat. Die Befreiung! Der deutsche Faschismus endgültig zerschmettert, die Menschheit vor dem Untergang in die Barbarei gerettet! Ich hatte Tränen der Freude, aber auch der Trauer, wenn ich an all jene dachte, die ihr Leben für diesen Tag eingesetzt hatten, ihn aber nicht mehr erleben konnten.“
Während die Menschen in Italien und Frankreich also jubelten, sangen und tanzten und das Ende von Gewalt, Krieg und Massenmord feierten, gab es in Deutschland am 8. Mai 1945 keinen Jubel. Denn Jubeln konnten, so Silvia Gingold, nur diejenigen Völker, die aktiv gegen den Faschismus kämpften, die sich auflehnten und Widerstand leisteten. Dies traf auf die allermeisten Deutschen nicht zu. Außer der Minderheit, die Widerstand leistete, nahmen die meisten Deutschen den 8. Mai als Niederlage und nicht als Befreiung von einem Regime wahr, das unterdrückte, ausbeutete und mordete – von „Katastrophe“ und „Zusammenbruch“ war damals die Rede, nicht von „Befreiung“. In der Bundesrepublik hat es 40 Jahre gedauert, bis ein offizieller Vertreter des Staates den 8. Mai als „Tag der Befreiung“ anerkannte – Richard von Weizsäcker in seiner Rede von 1985.
Für Peter und Ettie Gingold war der 8. Mai 1945 mit vielen Hoffnungen verbunden. Sie hofften, dass der Schwur von Buchenwald Wirklichkeit werden würde und eine „neue Welt des Friedens und der Freiheit“ aufgebaut werden konnte. „Wie schnell waren ihre Illusionen zerplatzt“, resümiert Silvia Gingold. Ihre Eltern konnten sich damals nicht vorstellen, dass in Westdeutschland die alten Nazis allesamt in ihren Ämtern blieben, dass die wenigsten der Kriegsverbrecher bestraft würden, dass wenige Jahre nach Kriegsende die Verfolgten des Naziregimes wieder verfolgt werden würden, dass Deutschland wiederbewaffnet würde und von deutschem Boden wieder Krieg ausgehen könnte… sie konnten es sich nicht vorstellen – doch sie wurden eines besseren belehrt!
Das Unvorstellbare wurde wahr und so der Nährboden für Neofaschismus und neue Kriege gelegt. Seit 1998 geht von deutschem Boden wieder Krieg aus. Heute ist die Bundeswehr weltweit an dutzenden Militär- und Kriegseinsätzen beteiligt und die Bundesregierung steht an vorderster Front bei der Mobilmachung gegen Russland. Silvia Gingold betont: „Sicherheit ohne oder gegen Russland kann es in Europa nicht geben“. Deutsche Waffenexporte produzieren weltweit Flüchtlingsströme, die dann im Mittelmeer ertrinken, weil die EU ihre Grenzen militärisch abschottet. Im Innern gedeiht derweil ein Klima des Hasses und der Fremdenfeindlichkeit. Neonazis mobilisieren gegen Asylunterkünfte und Flüchtlinge. Der von Altnazis gegründete Staatsschutz deckt und protegiert gleichzeitig neofaschistische Terroristen. Auf der anderen Seite werden AntifaschistInnen und Menschen, die sich konsequent für internationale Solidarität einsetzen, kriminalisiert. Silvia Gingold, die bereits Opfer der Berufsverbote wurde, wird seit Jahren vom Staatsschutz beobachtet, weil sie sich im Sinne ihrer Eltern antifaschistisch engagiert. Der Verfassungsschutz begründet die Beobachtung ausdrücklich mit dem Verweist darauf, dass Antifaschismus (seiner Meinung nach) zu den Merkmalen des Linksextremismus gehöre und daher verfassungsfeindlich sei. Die Kriminalisierung von Antifaschisten hat in der Bundesrepublik Tradition: Peter und Ettie Gingold wurde jahrelang die Einbürgerung verweigert, weil ihnen unterstellt wurde, sie würden sich nicht jederzeit bedingungslos für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einsetzen.
Von einem ganz anderen Standpunkt aus betrachtete Pfarrer i. R. Friedrich Gehring den 8. Mai 1945. In seiner Rede stellte er die Probleme des deutschen Protestantismus mit diesem Datum dar. Um die Situation der deutschen evangelischen Kirchen am 8. Mai 1945 zu ermessen, zitiert Friedrich Gehring ausführlich aus einer Stellungnahme, die am Erntedankfest 1939 von allen protestantischen deutschen Kanzeln verlesen wurde. Der Text ist unterzeichnet mit „Der Geistliche Vertrauensrat der deutschen Evangelischen Kirche“, das war die Bekennende Kirche: „Der Kampf auf den polnischen Schlachtfeldern ist, wie unsere Heeresberichte in diesen Tagen mit Stolz feststellen konnten, beendet, unsere deutschen Brüder und Schwestern in Polen sind von allen Schrecken des Leibes und der Seele erlöst, die sie lange Jahre hindurch und besonders in den letzten Monaten ertragen mussten. Wie könnten wir Gott dafür genugsam danken. Wir danken ihm, daß er unseren Waffen einen schnellen Sieg gegeben hat. Wir danken ihm, daß uralter deutscher Boden zum Vaterland heimkehren durfte und unsere deutschen Brüder nunmehr frei und in ihrer Zunge Gott im Himmel Lieder singen können. Wir danken ihm, daß jahrzehnte-altes Unrecht durch das Geschenk seine Gnade zerbrochen und die Bahn frei gemacht ist für eine neue Ordnung der Völker, für einen Frieden der Ehre und Gerechtigkeit. Und mit dem Dank gegen Gott verbinden wir den Dank gegen alle, die in wenigen Wochen eine solche gewaltige Wende heraufgeführt haben: gegen den Führer und seine Generale, gegen unsere tapferen Soldaten auf dem Lande, zu Wasser und in der Luft, die freudig ihr Leben für das Vaterland eingesetzt haben. Wir loben Dich droben, Du Lenker der Schlachten, und flehen, mögst stehen uns fernerhin bei.“ Friedrich Gehring betont: „Wer derart kriegstreiberisch militärische Gewalt theologisch überhöht, muss die militärische Niederlage als theologischen Zusammenbruch verstehen“. Nach 1945 gab es in der Evangelischen Kirche keinen wirklichen Neuanfang. Die halbherzige „Stuttgarter Schulderklärung” bekannte nicht eindeutig, dass das nationalsozialistische Gewaltregiment verherrlicht und der Name Gottes missbraucht wurde. Stattdessen wurde ein Persilschein formuliert, man habe lange, nur nicht genug gegen Hitler gekämpft. Nur der kleine linke Flügel der Bekennenden Kirche um Martin Niemöller bekannte sich im August 1947 im „Darmstädter Wort“ kompromisslos zur eigenen Schuld. Friedrich Gehring führt aus: „Leider wurde diese Minderheitenstellungnahme nicht bestimmend in den deutschen evangelischen Nachkriegskirchen. Die Feindbilder des Antisemitismus wurden nur ausgetauscht gegen die des Antikommunismus, das ersparte selbstkritische Umkehr. Ein wesentlicher Widerstand der Kirchen gegen die deutsche Wiederbewaffnung blieb aus.“ In diesem Geiste tat auch Joachim Gauck als lutherischer Theologe auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 den herrschenden Eliten im Lande den Gefallen, deutsche Auslandskriege zu propagieren. Joachim Gauck steht damit in einer opportunistischen Tradition, die sich historisch bis zum Augsburger Bekenntnis von 1530 von Martin Luther zurückverfolgen lässt.
Die Feierlichkeiten wurden auch in diesem Jahr wieder von der Heidelberger Singegruppe mit Michael Csaszkóczy musikalisch umrahmt. Im Gedenken an den kommunistischen Widerstand stimmten sie zum Ende der Veranstaltung spontan die „Internationale“ an und alle Anwesenden sangen mit.
Im Anschluss an das Programm wurde anlässlich des 70-jährigen Jubiläums ein kaltes Buffet angerichtet und auf den Sieg angestoßen mit „zum Wohl“ – „za zdorov’e“ – „santé“ – „cheers“ – „l’chaim“. Ganz besonderer Dank geht an ver.di Mittelbaden-Nordschwarzwaldund Thorsten Dossow (stv. Bezirksgeschäftsführer), die zum 70. Jahrestag einen Großteil der Organisation übernommen und Speisen und Getränke finanziert haben.
Die vollständigen Redetexte von Silvia Gingold und Friedrich Gehring können nachgelesen werden unter: